Impulsvortrag zum
ZUKUNFT LERNEN Event 

Von Boris Goldammer

Was ist Transformatives Lernen?

Eine Randerscheinung

Transformatives Lernen ist ein Begriff aus der Erwachsenenbildung. Kern ist die Transformation des Lernenden. Ich bin also nach dem Lernprorozess jemand anders als vorher. Entsprechend tiefgreifend und selten ist dieser Vorgang. Im Alltag des lebenslangen Lernens, dem sich viele Schulen, Hochschulen und mannigfache Bildungsinstitute verschrieben haben, spielt es kaum eine Rolle. Dennoch setzt die UN viele Hoffnungen auf das Konzept und wir haben ein dickes Buch darüber geschrieben. Ich möchte heute abend mit euch teilen, was diese “Randerscheinung” für uns so faszinierend macht. 

Erfahrungsleinwand

Transformatives Lernen geht von einem konstruktivistischen Weltbild aus. Danach haben wir alle ein Bild von der Realität und interpretieren unsere Erfahrungen vor dieser Leinwand. Wenn ich hier stehe und spüre, wie die Erde mich anzieht, dann entspricht das sowohl meiner Erfahrung, dass die Erde mich offensichtlich mag, als auch den physikalischen Gesetzen, die ich gelernt habe. Meine Leinwand von der Welt bleibt unverändert. Die Leinwand hat auch viele weiße Flecken, zum Beispiel von den Lateinvokabeln, die ich alle vergessen habe, aber auch von den Suaheli Vokabeln, die ich vermutlich nie lernen werde. Der Platz ist für dieses Wissen reserviert, sollte ich es eines Tages doch lernen wollen. Transformativ wird Lernen erst dann, wenn die neuen Erfahrungen nicht auf meine Leinwand passen, entweder weil dort schon etwas anderes steht, oder der Rahmen zu klein ist. Ich muss also etwas übermalen oder anbauen. Vielleicht merke ich sogar, dass mein Weltbild bisher verdreht aufgehängt war oder sich dieses beim erneuten Betrachten als dreidimensionale Skulptur erweist. Das ist zutiefst verunsichernd aber sehr spannend.

Paradigmenwechsel

Um Transformatives Lernen praxisnäher zu erklären, verweise ich gerne auf ihren kleinen Bruder, den Paradigmenwechsel. Ein Paradigmenwechsel ist, wenn ich die gleiche Situation aus einem ganz anderen Licht betrachte, weil ich etwas verstanden habe. Drei Beispiele: 

  • Ein Mann sitzt apathisch in der U-Bahn und lässt seine beiden überdrehten kleinen Kinder das ganze Abteil terrorisieren. Darauf angesprochen entschuldigt er sich. Sie kommen aus dem Krankenhaus, in dem heute morgen seine Frau verstorben ist.

  • Ein Mann sitzt am Strand, genießt das Idyll eines schönen Sonnenuntergangs und versucht das nervende Geklapper von jemandem, der eine Getränkedose herumkickt, hinter sich zu ignorieren. Als es nicht aufhört, dreht er sich um, um diesen “Neanderthaler” mit Blicken zu erdolchen und sieht, dass es ein junger Hund ist, der ausgelassen spielt. Da werden die Geräusche für den Mann zu einer wunderschönen Ergänzung des Idylls. 

  • Ein US-Admiral weicht bei schlechter Sicht mit seinem Flugzeugträger dem Licht eines Seemanns zweiter Klasse aus, mit dem er in Lichtmorsekontakt steht, nachdem er erfahren hat,  dass letzterer nicht in einem kleinen Fischerboot, das seinem großen Schiff ausweichen müsste, sondern in einem Leuchtturm.

Die Kinder terrorisieren weiterhin den U-Bahnwagen, das Dosengekicke ist nicht leiser geworden und das Licht in nebliger See hat sich auch nicht geändert. Aber alles drei wird völlig anders interpretiert, weil wir etwas verstanden haben. 

Transformatives Lernen ist ganz ähnlich, nur noch mal viel näher an uns dran, weil es nicht um das Interpretieren eines fremden Kindes, einer Dose oder eines See-Lichtes geht, sondern um unser grundsätzliches Bild von der Welt und nicht zuletzt um unser Bild von uns selbst. 

Unumkehrbarkeit

Eine grundlegende Gemeinsamkeit von Transformativem Lernen  und Paradigmenwechseln ist ihre Unumkehrbarkeit. Veränderung lässt sich zurückdrehen, Erkenntnis nicht. Ich kann sie aus dem Bewusstsein verlieren, aber sobald ich mich erinnere ist sie gleich wieder in ihrer ganzen Macht präsent. Ein simples Beispiel sind Kippbilder. Habe ich einmal das zweite Bild darin erkannt, kann ich das Bild nicht mehr betrachten, ohne seine zweite Bedeutung darin zu sehen. 

Bedeutung von Transformativem Lernen in unserer Zeit

Die großen Herrausforderungen unsere Zeit wie Klimawandel, Artensterben, Soziale Gerechtigkeit oder auch Covid 19 brauchen radikale, also tiefgreifende Antworten. Auf der technischen Seite sind wir gut dabei, aber beim Verhalten von uns Menschen hakt es oft. Und zumindest unser freiwilliges Verhalten wird von unserem Selbst- und Weltbild geprägt. Wollen wir uns als freie Menschen verhalten, brauchen wir ein tieferes Verständnis von uns als Teil der Natur und der Gesellschaft. Und wir brauchen den Mut, nicht vor angeblichen Sachzwängen zu kapitulieren. Das heißt, wir dürfen uns nicht als Opfer der Umstände sehen, sondern müssen und dürfen die Welt mitgestalten. Transformatives Lernen ist der Königsweg zu diesem Ziel.

Transformatives Lernen begleiten

Wenn Transformatives Lernen so nützlich ist, stellt sich die Frage, wie wir mehr davon in die Welt kriegen. Also: Wie kann ich für mich und andere die Bedingungen schaffen, die Transformatives Lernen wahrscheinlicher machen. 

Jack Mezirow hat das Konzept des Transformativen Lernens in den 1970er Jahren begründet. Er hat bei seiner Analyse von transformativen Lernprozessen 10 Schritte identifiziert. Der erste ist eine verunsicherndes Dilemma und der zweite eine kritische Selbstanalyse mit Angst, Wut, Schuld und Scham. – Ihr seht schon, dass es sich bei Transformativem Lernen, so wie Mezirow es versteht, um ein schwer zu verkaufendes “Produkt” handelt. Unsere Erfahrung ist aber, dass gar keine Krise braucht, sondern nur die absolute Bereitschaft, sich auf den transformativen Weg einzulassen. Mezirow ging nur davon aus, dass niemand ohne Not sein Weltbild auf den Kopf stellen würde (und seine empirische Forschung führte ihn in dieser Grundannahme).

Hier kommt nun Maria Montessori zu Wort. “Ja, Jack” würde sie vermutlich sagen, “eine Krise mag heute durchaus eine Bedingung für Transformatives Lernen sein, aber nur, weil wir den Menschen in der Schule die Neugier systematisch ausgetrieben haben. Hätten wir den Menschen statt Leistungsdrill den Raum gelassen, der eigenen Nase zu folgen und die Freude an der eigenen Entwicklung zu kultivieren, würde Transformation nicht in erster Linie als bedrohlich sondern als spannend und im höchsten Maße lebendig erlebt.” 

Das Leben ist ein Abenteuerspielplatz

Als Visionautik Akademie versuchen wir, unserer Gesellschaft wieder die kindliche Neugier zu entlocken. Und den Mut sich rücksichtslos ins Leben zu stürzen und sich selbst immer wieder neu zu erfinden. Blutige Knie sind dabei wahrscheinlich, aber immer nur Förmchen backen ist auf Dauer sehr viel unbefriedigender und global betrachtet  eine Bedrohung für die Menschheit und den Planeten.

Warum das Buch?

Die Teilnehmenden unserer Seminare kommen oft zur Visionautik Akademie, um Hilfe dabei zu bekommen, mit denen sie die Welt auf eine freudvolle Weise schöner und nachhaltiger machen können. Ansätze und Methoden, mit denen es gelingt sich den Herausforderungen unserer Zeit zu stellen, gemeinsam fantasievolle Lösungen zu entwickeln, die bei Mitstreiter:innen und Nutzer:innen Sehnsüchte und Tatkraft wecken, um sie schließlich mutig und professionell umzusetzen. 

Das ist so umfassend wie es klingt. In den letzten 10 Jahren haben wir gemeinsam mit vor allem europäischen Partnerorganisationen solche Methoden entwickelt und gesammelt. Jetzt haben wir auf über 400 Seiten einen Überblick über die Landschaft der Methodenvielfalt erstellt. Das Buch hilft Lehrerinnen, Coaches, Dozenten, Teamleiterinnen und Changemakern, sich im Wust der Angebote zurecht zu finden und diese zu bewerten. Schritt für Schritt Anleitungen für ausgewählte Methoden gibt es in unserer öffentlichen Online-Toolbox.

 

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