Text: Jutta Goldammer | Foto: Sunguk Kim und Jordy Meow
„Eine andere Welt ist nicht nur möglich, sie ist schon im Entstehen. An einem ruhigen Tag kann ich sie atmen hören.“
Arundhati Roy, indische Schriftstellerin und Aktivistin
st sie das? Ist sie auf dem Weg? Es gibt gerade keine ruhigen Tage, an denen man sie atmen hören könnte. Der Äther ist erfüllt von Kriegsberichten aus der Ukraine, von brüllendem Schmerz, Kampf und Zerstörung und darunter hämmert die eigene Unruhe und Verwirrung. Wie kann man bei diesem Lärm noch irgendetwas hören, geschweige denn das sanfte Atmen einer anderen Welt, einer neugeborenen Kultur?
Wenn man dem Lärm mit offenem Herzen zuhört und nicht zurückweicht vor der Angst und dem Schmerz und der Wut, dann lässt sich der Radioempfänger verstellen. Der Lärm bleibt, aber dazwischen kristallisieren sich andere Töne heraus. Ich höre das eigene offene, verwundbare schlagende Herz, das sich verbindet mit dem Rhythmus all derer, die gerade aufstehen für Menschlichkeit, Freiheit, Vielfalt und Lebendigkeit innerhalb und außerhalb der Ukraine. Ich höre ein lautes, deutliches NJET! mutiger russischer Demonstrant:innen, Journalist:innen und Wissenschaftler:innen, die trotz aller Gefahren Position gegen den Krieg beziehen. Ich höre das Zuschlagen der Türen von mit Hilfsgütern vollbepackten Transportern und das Aufschwingen von Türen unzähliger Menschen, die großzügig und ohne lange zu fragen ihr Zuhause für Flüchtlinge öffnen. Ich höre das Knistern der Anzüge von zusammenrückenden EU Politiker:innen für ein gemeinsames entschlossenes Handeln. Ich höre, wie Coronastreitereien mit einem Plopp unter den Tisch fallen, sich Gräben schließen und einer gebündelten Entschlossenheit Platz machen, anzupacken, wo es nur geht. Ich höre das höher werdende Surren der sich beschleunigenden Energiewende und das In-den-Keller-Sausen der Umfragewerte von Rechtsextremen wie Marine Le Pen. Ich höre die Stille des Nachdenkens, des Zuhörens, des besonnen Handelns. Ich höre über den ohrenbetäubenden Lärm von Putins verkrusteter Eroberungsdenke hinweg, wie in vielen Köpfen nationale Grenzen bröckeln, Territorien immer weniger eine Rolle spielen, sich lebendige Verbindungen, Freundschaften, Arbeits- und Liebesbeziehungen über Grenzen hinweg verflechten und neue Ebenen der Verständigung und des gemeinsam Menschseins schaffen.
Und ich höre auch einiges nicht. Ich höre keine jubelnden, hutschwenkenden Massen, die den Krieg begrüßen. Ich höre kein furchtsames Gemecker über Flüchtlingswellen, die uns zu überschwemmen drohten. Ich höre wenig Besserwisserei und Schuldzuweisung.
All das macht mir Mut, dass da etwas wächst, das durch Krieg und Gewalt nicht aufzuhalten ist. Vielmehr scheint mir, dass dadurch noch deutlicher zu Tage tritt, wie absurd, wie überholt, wie unhaltbar diese alte Welt von Trennung und Herrschaft übereinander ist und wie wichtig es jetzt ist, nicht wegzuschauen und zu denken, das alles habe nichts mit mir zu tun. Wie wichtig es ist, jetzt die Bequemlichkeit des eigenen sicheren Lebens beiseite zu schieben, meine Töne für eine neue Welt in die zarte Melodie einfließen zu lassen und dazu beizutragen, dass sie eines Tages zu einer unüberhörbaren, kräftigen und klangvollen Musik anschwillt.
Welchen Tönen möchte ich durch mein Denken, Reden und Handeln mehr Kraft verleihen und welchen möchte ich in Zukunft meine Aufmerksamkeit entziehen? Wie finde ich überhaupt meine Stimme? Wie bringe ich sie in Einklang mit dem, was um mich herum geschieht und mit den Stimmen der anderen Wesen auf diesem Planeten? Wie gelingt es, mich nicht lähmen zu lassen von Hilflosigkeit, Schock, Verwirrung und Angst oder zu verurteilen und hart zu werden vor Wut oder mich Abzuschotten vor Überforderung? Wie schaffe ich es, stattdessen weit und offen und handlungsfähig zu bleiben – oder es jetzt erst recht zu werden – um für das aufzustehen, was mir wichtig ist und mich dort einzubringen, wo ich einen Unterschied machen, den Klang der Zukunftsmusik mitformen kann?
Wenn du dir auch gerade diese oder ähnliche Fragen stellst, hilft dir vielleicht dieses Zitat aus “Erleuchteter Alltag” von Dan Millman dabei, in ein kraftvolles Handeln zu kommen:
“Frage dich in jeder schwierigen Situation: ‘Was würde der stärkste, mutigste, liebevollste Teil meiner Persönlichkeit jetzt tun?’ Und dann tue es. Tue es richtig. Und zwar sofort.”
Du bist gefragt. Bring deine Stimme ein, damit wir die neue Welt auch an stürmischen Tagen singen hören!